Portrait von Galsan Tschinag, Foto Ivana Scharf

Welches Bild taucht vor eurem geistigen Auge auf, wenn ihr hört: „Das ist eine fühlige Person“ ? Wie verändert sich dieses Bild, wenn ihr hört: „Das ist eine Person mit hoher Wahrnehmungskompetenz.“

 Bei mir kommen tatsächlich zwei sehr unterschiedliche Bilder auf. Heute möchte ich ein persönliches Erlebnis aus der Mongolei mit euch teilen. Ich denke, wir können von den Tuwa Nomaden viel über Wahrnehmungskompetenz, Körperbewusstsein und nonverbale Kommunikation lernen.

Wahrnehmungskompetenz in Begegnungen

2015 bin ich in den Hohen Altai, im Nordwesten der Mongolei gereist, vor allem, um Galsan Tschinag dort zu treffen, den ich zuvor bei einer Lesung in Bielefeld kennengelernt hatte. Galsan ist nicht nur Stammesführer der turksprachigen Tuwa Nomaden, sondern auch Schriftsteller (um 40 deutschsprachige Bücher) und Schamane. Wir trafen dort in einer kleinen Gruppe von sieben Menschen aus Deutschland und der Schweiz zusammen.

Die über 400 Fotos meiner Reise musste ich gar nicht noch einmal anschauen, um die Erinnerungen vor meinem geistigen Auge lebendig werden zu lassen. Denke ich an die Mongolei, denke ich an Weite, die Stille, den Frieden die Herzlichkeit der Menschen im Altai und fühle, dass ich mir davon etwas in meinem Herzen bewahrt habe. Ich denke auch an viele Anekdoten über Jurten-Kino, Heizen mit Yak-Dung, Schnupftabak-Rituale, Nadaam-Fest & Göthe, Murmeltiere und meine vegetarische Suppe, die ich für die Tuwa gekocht habe.

Die Tuwiner sind ein sehr naturverbundenes und ursprünglich schriftloses Volk mit einer langen Erzähltradition. Erst ab den 1930ern hat sich das Mongolische als Schriftform etabliert. Das hat für die Kultur des Miteinanders, für eingeübte Rituale als Mittel zur Verständigung und für die Wahrnehmungskompetenz in Begegnungen eine große Bedeutung. So habe ich es in vielen Situationen erlebt, wie auch in der folgenden.

Komplexe Körper-Geist-Umweltbeziehung

Was glaubt ihr ist das beste Fortbewegungsmittel in der Steppe? Ich weiß heute noch, dass ich mein mongolisches Steppenpferd mit mehreren kräftigen und bestimmten „Cu“ (spricht sich „tschu“) in einen atemberaubenden Galopp versetzen konnte. Niemand aus unserer Gruppe hat jemals auf einem Pferd gesessen und wir haben uns gefragt, wie wir zu unserem passenden Pferd kommen, ohne uns mit den Tuwa darüber verständigen zu können.

Während wir uns Gedanken darüber machten, wie wir unsere nichtvorhandene Reiterfahrung unsere Selbsteinschätzung und unsere Sorgen vermitteln konnten, wurden uns von den Reitern die Pferde einzeln mit ihren Charaktereigenschaften vorgestellt und mit jedem einzelnen aus der Gruppe entsprechend der von ihnen wahrgenommenen Eigenschaften gematcht. Die Tuwa haben, während sie uns beobachteten und unsere Stimmen hörten, viele Details wahrgenommen wie auch unsere Temperamente und Sorgen erkannt. Vielmehr noch erfolgte die Zuordnung nachdem jeweiligen Potential, dass sie in uns gesehen haben. Mir wurde beispielsweise gesagt: „Du bekommst dieses Pferd, damit Du Deine ganze Energie ausleben kannst.“

Das hat mich tief beeindruckt und das tat ich dann auch. So kam es, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben auf ein Pferd saß und dann, wie Eins mit dem Pferd über die Steppe galoppierte. Das Reiten habe ich zwar nicht in meinen Alltag mitgenommen, dafür hat mich diese Begegnung zur Embodiment-Forschung und Praxis geführt. Die komplexe Körper-Geist-Umweltbeziehung, die wir in diesem Beispiel ablesen können, wird heute in den Kognitions- und Neurowissenschaften neu entdeckt, während die neuere Forschungsrichtung der Embodiment-Forschung diese Phänomene interdisziplinär untersucht. Wir alle haben den Zugang zu unserer Wahrnehmungskompetenz, nur müssen wir sie wertschätzen, und ihr einen Raum geben und sie trainieren.

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Das Titelfoto sowie alle anderen Fotos sind von Ivana Scharf.

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